Wir deutschen Ärzte müssen uns vom Staat emanzipieren

Neuorientierung ist notwendig

2000 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 3/2000, 137-138

Vom Ärztetag 2000 in Köln kam die angeblich "frohe" Botschaft: Gesundheitsministerin Andrea Fischer, Ärztekammerpräsident Dr. Hoppe und weitere Ärztefunktionäre würden wieder vieles sehr ähnlich sehen ... Ist der neue Schmusekurs der Ärzte mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) eine frohe Botschaft? Überhaupt nicht, denn ein solches Arrangement verspricht nur, dass das alte System am Leben erhalten wird. Das System bedeutet: Wir haben in Deutschland ein staatliches Gesundheitssystem: Die Leistungserbringer, die Ärzte, sowie die gesetzlichen Krankenkassen sind in öffentlich-rechtlichen Körperschaften organisiert; die Krankenhäuser sind zu 83 % öffentlich oder gemeinnützig, das heißt sie sind ebenfalls staatsgebunden. Jedes Aufbegehren der Leistungserbringer (Ärzte und Zahnärzte) gegen das System wurde bislang unterdrückt: Vor Jahren geschah dies z.B. durch einen Kommissar in Niedersachsen; vor einem Jahr – ein weiteres Beispiel - erfuhr der Vorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) Dr. Schorre vom BMG, dass die KBV kein politisches Mandat habe und er also nur ein Befehlsempfänger sei. Diese Beispiele belegen, dass wir Ärzte und insbesondere die niedergelassenen, freiberuflich tätigen Ärzte letzten Endes nur Befehlsempfänger eines staatlichen Systems sein sollen. Dieses neue Auftrumpfen des Staates macht eine Umorientierung der deutschen Ärzteschaft dringend notwendig. Wir freiberuflich tätigen Ärzte sind nach dem Grundgesetz und unserer Berufsordnung für unsere Arztpraxen in jeder Hinsicht selbst verantwortlich. Wir sind nicht Staatsdiener und können es auch nicht werden. Wir dürfen nicht länger die Sklaven dieses staatlichen Gesundheitssystems sein.

Bei der Neuorientierung sollten wir uns an ökonomischen und verfassungsrechtlichen Zielen ausrichten:

Ökonomische Zwänge

Die Monopolkommission (1997), die Reformkommission Soziale Marktwirtschaft (1999) und nicht zuletzt Ökonomen wie Professor Hankel (1999) fordern, dass unser Gesundheitssystem von einem Sachleistungssystem in ein System der Kostenerstattung und des Wettbewerbs umgewandelt wird; dieses sei allein schon wegen der Integration Deutschlands in das neue Europa erforderlich.

Verfassungsrechtliche Zwänge

Sodan hatte 1997 umfassend dargelegt, dass eine gesetzliche Krankenversicherung (GKV) aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht wie heute 90 % der Bevölkerung, sondern nur 50 % der Bevölkerung versichern darf. Zudem schränkt das jetzige System der gesetzlichen Krankenversicherung die freiberuflich tätigen Ärzte verfassungswidrig ein, indem es ihre Berufsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit (Artikel 12 und 5 Grundgesetz) sowie das Grundrecht auf Eigentum (Einschränkung des Verkaufs von Vertragsarztpraxen sowie Festlegung der Altersgrenze von Vertragsärzten) beschneidet. Außerdem engt das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 das Grundrecht auf persönliche Freiheit der Bürger ein, indem es die freie Arztwahl (bei der Integrationsversorgung) und das Recht auf Wahl von Medikamenten einschränkt.

Zudem haben die staatlichen Sozialgerichte sowie einige Ärztekammern und KVen entschieden, das Vertragsärzte jede (!) Leistung, die sie Privatpatienten anbieten, den Kassenpatienten ebenfalls als Versicherungsleistung anbieten müssen - unabhängig davon, ob die Bezahlung über Krankenschein kostendeckend ist oder nicht. Eine solche Forderung würde letzten Endes sogar eine Gebührenordnung überflüssig machen. Hier wird deutlich, worauf das alte System zielt: Der Vertragsarzt muss gehorchen und sich bei Kostenunterdeckung seiner Arbeit für gesetzlich Versicherte das nötige Geld außerhalb dieses Systems holen. Der Arzt wird also zum Sklaven des GKV-Systems. Dies verstößt gegen das Grundgesetz und entlarvt das GKV-System in seiner jetzigen Ausprägung als ein politisches Willkürsystem.

Europarechtliche Zwänge

Die Zeichen mehren sich, dass der deutsche Weg der mittelbaren Staatsverwaltung über Selbstverwaltungsorgane im neuen Europa keine Zukunft hat. Exemplarisch wird dieses an dem Dilemma deutlich, in dem sich zur Zeit die Bundesgesundheitsministerin befindet, wenn sie darüber entscheidet, welchen Status der Bundesausschuss Ärzte/Kassen erhalten soll. Der Bundesausschuss Ärzte/Kassen soll nämlich unter anderem die Arzneimittelfestpreise festlegen. Würde der Bundesausschuss ein Selbstverwaltungsorgan werden, unterläge er europäischem Kartellrecht und würde wie die Krankenkassen und KVen als Unternehmen eingestuft. Es bleiben Frau Fischer also nur zwei Möglichkeiten: Entweder die Festbetragsregelung wird durch Gesetz festgelegt, dann wird das deutsche Gesundheitswesen zu einem staatsdirigistischem Gesundheitswesen; hiergegen haben sich unsere Parteien ausgesprochen. Oder die Ministerin lässt für einen Teil der GKV-Leistungen, z.B. die Arzneimittel, Kostenerstattung zu (Dierks, Münnich 2000); dann wäre es jeder Krankenkasse überlassen, wie viel der Arzneikosten sie dem einzelnen Mitglied erstattet.

Am Beispiel des Bundesausschusses Ärzte/Krankenkassen wird deutlich, dass die deutschen Selbstverwaltungsorgane, sofern sie am Markt wirken, im neuen Europa keine Zukunft haben werden. Dieses gilt insbesondere für die Krankenkassen und KVen. Auch aus diesem Grunde ist es zwingend erforderlich, dass wir deutschen Ärzte unsere Zukunft außerhalb staatlicher Organe suchen.

Ärztliches Selbstverständnis

Man fragt sich, wieso die deutschen Ärzte eine Abhängigkeit vom Staat ohne großes Murren seit längerer Zeit hinnehmen. Ein Blick in die Geschichte mag einiges erklären:

Die deutsche Medizin wurde im 19. Jahrhundert durch die Preußische Militärakademie in Berlin, die sogenannte Pépinière geprägt. Der preußische Staat hatte nach der Niederlage durch die Franzosen bei Austerlitz im Jahre 1806 viele Reformen initiiert, um Preußen in einen modernen Staat umzuwandeln. Dazu gehörte unter anderem eine gute Ausbildung der Militärärzte, deren Paradeschule eben diese Pépinière wurde. Hier an der Pépinière wurde die Medizin nach militärischem Vorbild organisiert. Die Mehrzahl der deutschen Nobelpreisträger vom Anfang des 20. Jahrhunderts waren Absolventen dieser Pépinière. Hier gab es spätestens ab 1852 die Bezeichnung Oberarzt und Unterarzt als Ausdruck dieser Militärhierarchie. Da die Professoren der Pépinière gleichzeitig Professoren der Charité, der Medizinischen Fakultät der Universität Berlin waren, haben sie das Chefarztsystem zur Universität gebracht. Von der Charité hat es sich im ganzen deutschsprachigen Raum verbreitet und existiert noch heute in dieser Form.

Die Ärzte haben damals und auch heute ihren Beruf überwiegend als gesellschafts-, wenn nicht als staatstragende Aufgabe angesehen, zumindest die Professoren der Universitätskliniken und die Krankenhausärzte. Diese staatstragende Bedeutung kommt gut in dem Buch von Friedrich Nasse (1823) zum Ausdruck: "Wer für den Zweck des Staates ein Amt führt, ist dem Wesen der Sache nach Staatsbeamter, so wie wer diesem Zwecke dient, Staatsdiener, möge ihm nun dieser Name in der Gesellschaft zugeteilt sein oder nicht. Und so ist denn auch der Arzt infolge seines Berufszwecks Staatsbeamter, Staatsdiener, wenn auch ihm diese Benennung bei einer bloßen Berücksichtigung seiner äußeren Verhältnisse nicht zugestanden sein sollte. Er ist, dem Wesen der Sache nach, ebenso gut Staatsbeamter, Staatsdiener, wie es der Richter, wie es der Prediger ist...

Der Zusammenschluss örtlicher Ärztevereine führte 1873 zum Deutschen Ärztevereinsbund, der seit dieser Zeit die Deutschen Ärztetage abhält. Dieser Deutsche Ärztevereinsverbund, die späteren Ärztekammern, strebte von Anbeginn an die Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts an, um in allen gesundheitspolitischen Fragen von Legislative und Exekutive gehört zu werden (Deneke 1997). Die niedergelassenen Ärzte haben sich wegen des Kampfes mit den Krankenkassen im Verband zur Wahrung der wirtschaftlichen Interessen der Ärzte Deutschlands (Leipziger Verband), ab 1924 Hartmann-Bund genannt, vereinigt. Nach den Brüningschen Notverordnungen im Jahre 1931 wurden die niedergelassenen Ärzte jedoch in die öffentlich-rechtliche Institution "Kassen[Zahn]ärztliche Vereinigung" eingebunden. Im Hitler-Reich war die Reichsärztekammer eine staatliche Organisation, der Vorsitzende wurde direkt von Adolf Hitler bestimmt.

Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurden die Ärztekammern von den alliierten Mächten als öffentlich-rechtliche Institutionen anerkannt. Die Kassenärztlichen Vereinigungen assoziierten sich zunächst mit den Ärztekammern, bis auch sie als öffentlich-rechtliche Institutionen akzeptiert wurden. Warum die niedergelassene Ärzteschaft nach dem Kriege keine freie Interessenvertretung gründete, müsste noch geklärt werden. Auch hier dürfte das Selbstverständnis der Ärzte als Mitglieder eines staatstragenden Berufsstandes eine wesentliche Rolle spielen. 1978 hat Prof. Dr. Bourmer noch einmal einen Versuch gemacht, die freien Ärzteverbände, d. h. den Hartmann-Bund und den NAV-Virchow-Bund, in einer gemeinsamen Interessenvertretung zusammenzuschließen. Dieser Versuch scheiterte an den Eigeninteressen der Verbände.

Tatsache ist also, dass seit über 70 Jahren die deutsche Ärzteschaft keine staatsunabhängige Interessenvertretung von Gewicht hat. Dieses ist erstaunlich für ein demokratisches Land, in dem etwa die Hälfte aller Ärzte freiberuflich tätig ist. Die deutsche Ärzteschaft hat sich zwar immer wieder vorgegaukelt, die KVen und insbesondere die Bundesärztekammer mit ihrem Ärztetag seien ihre Interessenvertretungen. Jedoch ist der deutsche Ärztetag kein demokratisch gewähltes Parlament, sondern eine Versammlung von Ärztekammer-Delegierten, welche wiederum Mandatsträger einer öffentlich-rechtlichen Institution und damit letztlich dem Staat weisungsgebunden sind. Seit der Budgetierung des Gesundheitswesens im Jahre 1993 durch Gesundheitsminister Seehofer fordert der Staat nun sein "Recht" ein, nämlich Systemtreue und finanzielle Opfer der freiberuflich tätigen Ärzte. Dies beendet den Traum der deutschen Ärzteschaft von der Benevolenz des Staates gegenüber dem Ärztestand.

Europa verlangt den mündigen Bürger und den mündigen Arzt

Der Einigungsprozess in Europa, der durchaus als eine Teilentwicklung der Globalisierung angesehen werden kann, basiert auf dem republikanischen Gedanken, dass alle Macht vom Volk ausgeht, das heißt, dass der Bürger mündig ist. In ein solches System passt ein staatlich gelenktes Gesundheitssystem, das den Leistungserbringer (Vertragsarzt) versklavt und den Bürger unmündig hält, überhaupt nicht. Dieses müssen wir Deutsche und insbesondere wir deutschen Ärzte erkennen. Wir Ärzte müssen uns vom Staat emanzipieren, wir müssen unsere heimliche Staatsdienerschaft aufgeben. Wir müssen eine staatsunabhängige Interessenvertretung aufbauen, die für die Grundrechte der Bürger, dass sind die Patientinnen und Patienten sowie ihre Ärzte, kämpft. Wir Ärzte müssen die Vorbilder für die mündigen Europäer werden.

Dabei sollten wir die bestehenden Selbstverwaltungsorgane durchaus zu erhalten versuchen: Die Ärztekammer für alle Fragen des Berufsrechts und die KVen als Administratoren für die Basisversorgung der Bevölkerung. In verfassungsrechtlichen Fragen muss uns jedoch eine staatsunabhängige Ärztevertretung vertreten. Denn die staatlichen Gerichte, allen voran die Sozialgerichte, haben in den letzten Jahren durch ihre Entscheidungen den Eindruck hinterlassen, dass sie einem Missbrauch staatlicher Gewalt gegenüber freiberuflich tätigen Ärzten nicht Einhalt gewähren (s. Urteile zum Praxisbudget, zur 68-Jahresgrenze, zum ICD-10, zur Angemessenheit ärztlicher Vergütung). Was Not tut, ist eine Dachorganisation aller freien, ärztlichen Verbände.

Wichtig ist, dass wir deutschen Ärzte uns auf den Wettbewerb innerhalb des neuen Europas einrichten. In Zukunft werden Qualität der Leistungen und Wirtschaftlichkeit der Unternehmen (Praxen, Krankenhäuser) eine immer größere Rolle spielen. Beide sind eng miteinander verbunden, denn der Patient wünscht effiziente Hilfe zu fairen Preisen. Wir Ärzte in eigenen Praxen haben es bezüglich der Wirtschaftlichkeit noch leichter als die Ärzte im Krankenhaus; denn wir sind selbst für das Praxismanagement verantwortlich. Wir müssen uns dabei jedoch professioneller, d.h. betriebswirtschaftlicher Hilfe bedienen.