Kassenärzte sind Freiberufler und nicht unmittelbar für Sicherstellungsauftrag verantwortlich
2000 +++ Manfred Hagedorn ++ Quelle: ambulant operieren 4/2000, 195-196
Nach dem Gesetz (SGB V) hat die Kassenärztliche Vereinigung
(KV) gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen die ambulante ärztliche
Versorgung der Versicherten (Bevölkerung) sicherzustellen. Der sog. Sicherstellungsauftrag
betrifft also nicht unmittelbar die Kassenärzte (geschönt: Vertragsärzte).
Denn sie sind freiberuflich tätige Ärzte. Die KV bedient sich nur
der freiberuflichen Ärzte zur Erfüllung des ihr vom Gesetzgeber
aufgetragenen Sicherstellungsauftrages (BVerfGE 11, 30/40). Die KV ist dabei
als Körperschaft des öffentlichen Rechts selbst Behörde. Die Kassenärzte (Vertragsärzte) sind in diesem
System der Sicherstellung nur freiberuflich tätig d.h. sie bleiben
freiberufliche Unternehmer (BVerfGE 11, 30/40; vgl. auch Boeken auf dem medizinisch-juristischen
Seminar der MEDICA Baden-Baden 2000, Bonner Ärztliche Nachrichten II/2000). Ist aber der Kassenarzt (Vertragsarzt) Freiberufler, so trägt
er auch das volle wirtschaftliche Risiko seiner Tätigkeit wie
jeder Unternehmer. Will er daher nicht Pleite gehen, so muss er seine Preise
so gestalten, dass er hiervon seine Betriebskosten (Ausgaben) und einen Unternehmerlohn
(eigene Lebenshaltung plus Existenz- und Alterssicherung) abdecken kann. Nachdem der Kassenarzt (Vertragsarzt) aber seine Honorare
nicht selbst bestimmen kann, sondern in eine behördliche Vergütungsregelung
der KV einbezogen ist, muss diese Vergütungsregelung angemessen sein.
Andernfalls liegt ein Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art.
12 I GG und damit eine Verletzung dieses Grundrechts vor (vgl. BVerfGE 47,
285/321). In jedem Fall liegt aber "Unangemessenheit" vor, wenn
für eine Leistung nicht einmal die reinen Betriebskosten gedeckt sind.
Wie jeder Unternehmer ist daher auch der Kassenarzt (Vertragsarzt)
sieht man von Notfällen ab als Freiberufler "frei",
solche Leistungen in "roten" Zahlen zu erbringen oder aber nicht
zu erbringen. Sieht man von Notfällen ab, ist für einen freiberuflichen
Kassenarzt (Vertragsarzt) der behördliche Zwang, Leistungen in roten
Zahlen zu erbringen, ein enteignungsgleicher Eingriff; denn die eingerichtete
und ausgeübte Praxis des Kassenarztes (Vertragsarztes) genießt
enteignungsrechtlich den gleichen Schutz wie ein "eingerichteter und
ausgeübter Gewebebetrieb" (vgl. BGHZ 81, 21/33; 132, 181/186). Im
Hinblick auf die Eigentumsgarantie aus Art. 14 GG müsste der behördliche
Eingriff, Leistungen in Unterdeckung also enteignend zu erbringen,
ausdrücklich durch das Gesetz selbst vorgesehen sein. Dies ist aber gerade
nicht der Fall. Denn das Gesetz geht in § 85 SGB V gerade von einer angemessenen
Vergütung aus. Unabhängig davon, dass damit eine gesetzliche Vorschrift,
die eine nicht kostendeckende Leistungspflicht des freiberuflichen Kassenarztes
(Vertragsarztes) fordert, nicht vorliegt, hätte eine solche allgemeine
Vorschrift zum Leistungszwang gegenüber dem Freiberufler "herabwürdigenden"
Charakter und wäre mithin mit Art. 12 II GG unvereinbar (vgl. BVerfGE
22, 380/383; 74, 102/116f.). Hieraus folgt, dass ein Kassenarzt (Vertragsarzt) grundsätzlich
nicht gezwungen werden kann, kassenärztliche Leistungen in "roten"
Zahlen zu erbringen. Er hat insoweit ein verfassungsrechtliches Verweigerungsrecht. Damit stellt sich aber die Frage, ob er als freiberuflich
tätiger Arzt die gleiche Leistung beim Patienten als Privat-Patient erbringen
kann und darf. Für Kassen- und KV-Vertreter ebenso wie für Sozialrichter
ist dies "Hochverrat" und "Boykott" an dem "hohen
Gut" der Gesetzlichen Krankenversicherung. Es gibt aber keine verfassungskonforme
Norm, die dem Bürger verbietet, sich außerhalb des Systems der
GKV ärztlich behandeln zu lassen. Eine solche Vorschrift wäre auch
mit Art. 2 I GG unvereinbar. So ist auch fraglich, ob § 18 Abs. 1 Ziff. 2
BMÄ mit seiner Konditionierung im Verhältnis zum Patienten rechtlichen
Bestand haben kann. Denn würde der freiberufliche Kassenarzt (Vertragsarzt)
seine Leistung ohne Honorar erbringen, so wäre ihm die Behandlung aus
dem Gesichtspunkt des GKV-Systems nicht untersagt. Es wäre dies dann
aus der ärztlichen Berufsordnung zu beurteilen. Hieraus ergibt sich aber
sogleich, dass es sich bei der Bestimmung in § 18 Abs. 1 Ziff. 2 BMÄ
um ärztliches Berufsrecht und nicht um Recht der GKV handelt. Auf diesem
Sachgebiet fehlt dem Bund und damit der KV und Kassen die rechtliche Kompetenz.
Allein die auf den Landesgesetzgeber gestützte jeweilige ärztliche
Berufsordnung könnte unter Beachtung des Grundrechts der Patienten aus
Art. 2 I GG sowie des Verhältnismäßigkeitgebots hier
Normen schaffen. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang das Urteil
des 6. Senates des BSG vom 17.09.1998 (AZ: 6RKa 36/97), in dem festgehalten
ist, dass ein Kassenarzt (Vertragsarzt) gerade als Facharzt nicht alle in
seinem Gebiet möglichen ärztlichen Leistungen bereithalten muss,
sondern aus wirtschaftlichen Gründen zu Leistungseinschränkungen
auch im GKV-Bereich berechtigt ist. Eigentlich im Hinblick auf die Freiberuflichkeit
des Kassenarztes (Vertragsarztes) eine Selbstverständlichkeit. Aber ob
dieser Festsstellung bekamen nicht nur die Mitglieder des 6. Senates des BSG
im Hinblick auf die "Finanzierbarkeit" bei nicht angemessener Vergütung
kalte Füße. So wurde gegensteuernd die Idee geboren, das jeder
Kassenarzt (Vertragsarzt) in seinem Gebiet in einem "Kernbereich"
Leistungen auch wenn sie im GKV-Bereich nur unwirtschaftlich erbracht
werden könnten vorhalten müsse. Eine Definition solcher "Kernbereiche"
aber liegt nicht vor. Schon aus Gründen mangelnder Bestimmtheit ist die
gegenwärtige Diskussion um Kernbereiche aus rechtsstaatlicher Sicht obsolet.
Hinzu kommt, dass solche Kernbereiche mit Leistungsvorhalteverpflichtung wegen
der Kompetenztrennung des Grundgesetzes zwischen Bund und Ländern nur
von den Ärztekammern in den Berufsordnungen unter Wahrung des rechtsstaatlichen
Gebots der Bestimmtheit und der Verhältnismäßigkeit geschaffen
werden könnten. Als von der Vertreterversammlung der KV-No in den Honorarverteilungsmaßstab
eine Bestimmung des Inhalts aufgenommen wurde, dass der Vertragarzt
außer in Notfällen nicht verpflichtet sei, Leistungen zu
erbringen, die nicht kostendeckend erbracht werden können, so war man
im Gesundheitsministerium höchst irritiert und sah hierin eine Systemgefährdung.
Man veranlasste das Landesgesundheitsministerium, im Aufsichtswege zwecks
Aufhebung der Bestimmung gegen die KV vorzugehen. Dies geschah auch prompt
mit dem Hinweis, dass eine Benehmensherstellung mit den Krankenkassen nicht
erfolgt sei und die Bestimmung deshalb seitens der KV als nichtig angesehen
werden müsse. Diese Tatsache allein beweist schon zur Genüge die
Angst der Systemwächter um den Systemerhalt und das Eingeständnis,
dass im Hinblick auf den Grundsatz der Beitragsstabilität in der GKV
bestimmte ärztliche Leistungen nicht mehr kostendeckend vergütet
werden. Denn würden alle ärztlichen Leistungen kostendeckend vergütet,
bestünde das Problem nicht. Damit wird klar, dass die Politik im gegenwärtigen
GKV-System den niedergelassenen Kassenarzt (Vertragsarzt) als Freiberufler
in schamloser Weise missbraucht. Dies ist für jeden Arzt herabwürdigend,
wenn nicht sogar menschenunwürdig. Wenn man den Arzt in der Gesundheitspolitik
zu einem Sklaven herabwürdigt, so darf man sich auch nicht wundern, dass
dann auch nur erzwungene Sklavenarbeit herauskommt. Nach hiesiger Auffassung
wäre damit auch Art. 12 II GG verletzt. Das System ist verfassungswidrig. Pervers ist es, hier zum Zwecke des Systemerhalts sozialpolitische
Schlagworte wie "das Hohe Gut der gesetzlichen Krankenversicherung"
und/oder "das hohe Gut der Finanzierbarkeit der gesetzlichen Krankenversicherung"
mangels klarer und eindeutiger gesetzlicher Bestimmungen als übergesetzliche
Argumentationshilfe zu benutzen.