Bundessozialgericht verletzt Grundrechte der Ärzte

Unverständnis und Ablehnung bei den Betroffenen

2001 +++ Jost Brökelmann +++

Mit seinen Kassenarzt-Urteilen vom 14. März 2001 und 27. Juni 2001 hat das Bundessozialgericht (BSG) unter seinem Vorsitzenden Richter Dr. Engelmann u.a. geurteilt, dass es Pflicht der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) ist, Leistungen des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs (EBM) sicherzustellen, und dass KVen nicht befugt sind, zum Boykott (Streik) von EBM-Leistungen aufzurufen. Dieses ist nachvollziehbar, wenn man von der Vorstellung ausgeht, dass KVen öffentlich-rechtliche Institutionen und nicht die Interessenvertretung von freiberuflich tätigen, niedergelassenen Ärzten sind. Historisch gesehen war mit dem Kassenarztrecht von 1955 der Sicherstellungsauftrag an die KVen gegangen unter der Bedingung, dass sie zukünftig auf Kampfmassnahmen verzichten würden.

Auf der anderen Seite stoßen die BSG-Urteile bezüglich der Rechte und Pflichten der Vertragsärzte auf Unverständnis und Ablehnung der Betroffenen. So heißt es im Urteil vom 14. März 2001:

B6KA 67/00R:

Der Kläger war nicht berechtigt, bestimmte von ihm vorgehaltene, zur vertragsärztlichen

Versorgung gehörende Leistungen (hier: ärztliche physikalisch-medizinische Behandlungen) für Versicherte der GKV nur noch privatärztlich zu erbringen, nachdem er in einer Untersuchung zuvor die Notwendigkeit dieser Leistungen festgestellt hatte. Die Vertragsarztzulassung berechtigt und verpflichtet ihn zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung nach Maßgabe der gesetzlichen und untergesetzlichen Vorschriften. Mit diesem Status sind Vorteile verbunden wie die Eröffnung des großen Kreises der GKV-Versicherten als potentielle Patienten und die Gewähr sicherer

Einkünfte von öffentlich-rechtlichen Institutionen als Schuldnern. Damit korrespondiert die sich aus § 95 Abs. 3 SGB V ergebende Hauptpflicht des Vertragsarztes zur Erbringung der typischen Leistungen seines Fachgebiets, zu deren Ausführung er berechtigt und in der Lage ist. Er ist dagegen nicht befugt, sein Leistungsspektrum beliebig einseitig (nur) gegenüber den GKV-Versicherten einzuengen. So darf er nur in begründeten Fällen die Behandlungen von Versicherten oder Teile von Behandlungen ablehnen und muss alle für die Behandlung notwendigen Verordnungen treffen. Zu Überweisungen an andere Ärzte seines Fachgebiets ist er nur unter engen Voraussetzungen berechtigt. Zuzahlungsverlangen für die Erbringung vertragsärztlicher Leistungen sind grundsätzlich nicht statthaft. Dementsprechend ist es erst recht nicht zulässig, ausschließlich private Bezahlungen für zur vertragsärztlichen Versorgung gehörende Leistungen zu fordern. Dies ergibt sich auch daraus, dass Versicherte mit ihren Beitragszahlungen den Anspruch auf alle medizinisch notwendigen ärztlichen Leistungen erwerben.

B6KA 36/00R:

"Sein Einwand, die von ihm durchgeführten ambulanten Operationen würden nicht vom Sicherstellungsauftrag der KÄV umfasst, geht fehl. Maßgeblich ist allein, dass es sich bei diesen um vom SGB V und vom EBM-Ä erfasste vertragsärztliche Leistungen handelt."

Was die Pflichten des einzelnen Vertragsarztes betrifft, sind diese bislang nirgends gesetzlich festgelegt (Brökelmann, J., B. Halbe: Kann ein Vertragsarzt Leistungen der GKV aus ökonomischen Gründen verweigern? ambulant operieren 1/2001,18-20). In §95 Abs.3 SGB V heißt es hierzu lediglich " ... der Vertragsarzt ...zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt und verpflichtet ist. Die vertraglichen Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung sind für ihn verbindlich".

Es gibt nur eine vertragsähnliche Beziehung zwischen dem einzelnen Vertragsarzt und seiner Kassenärztlichen Vereinigung (KV) im Rahmen der Zulassung des Vertragsarztes. Diese Rechtsbeziehung ist diejenige zwischen einem freiberuflich tätigen, niedergelassenem Vertragsarzt (vor 1993 Kassenarzt) und einer öffentlich-rechtlichen Institution, der KV. Ein unterschriebener Vertrag existiert nicht. Es heißt lediglich in der Satzung der KV, dass der Vertragsarzt an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmen soll. Nach Friauf ist der Vertragsarzt als Angehöriger eines freien Berufs kein Erfüllungsgehilfe der Kassenärztlichen Vereinigung. Die Vereinigung haftet vielmehr allein für die Verletzung der ihnen selbstobliegenden Pflichten, namentlich des Sicherstellungsauftrages gemäß §75 SGB V (Friauf, K.-H.: Zur Frage, ob eine Überbürdung des Morbiditätsrisikos im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung auf die Vertragsärzte mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Rechtsgutachten. Asgard-Verlag Dr. W. Hippel KG Sankt Augustin 1997)

Eine Rechtsbeziehung zu den Krankenkassen besteht nicht. Deshalb kann eine Krankenkasse auch nicht gegen einen Vertragsarzt wegen unterlassener Leistung klagen, sondern nur gegen die betreffende KV, die den Krankenkassen Leistungen schuldet. Nur letzteren Weg der direkten Anklage der KV gehen die Krankenkassen im allgemeinen nicht, sondern sie versuchen, über einen Antrag auf Entzug der Niederlassung des betreffenden Vertragsarztes diesen zu "bestrafen". Im Kern geht es nicht um die Nichterbringung einzelner Leistungen, denn die von einem einzelnen Vertragsarzt "verweigerten" vertragsärztlichen Leistungen werden praktisch immer an anderer Stelle der vertragsärztlichen Versorgung oder im Krankenhaus im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erbracht. Es geht den Krankenkassen um eine weitgehende wenn nicht vollständige Einbindung der Vertragsärzte in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und damit Disziplinierung der Vertragsärzte.

Bei einem Antrag auf Entzug der Niederlassung greifen die Krankenkassen massiv in die Rechtsbeziehung zwischen KV und Vertragsarzt ein, um "Systemabweichler" zu bestrafen. Die Konstruktion der Zulassungsausschüsse, die paritätisch von Vertretern der Ärzte und der Kassen besetzt sind, führt bei Stimmengleichheit von Ärzte- und Kassenvertretern zunächst zur Ablehnung des Antrags auf Zulassungsentzug. Vor dem Berufungsausschuss jedoch zählt zusätzlich die Stimme des Vorsitzenden, der ein Jurist mit der Befähigung zum Richteramt sein muss. Wenn dieser auf der Seite der Krankenkassen steht, wird dem Antrag auf Zulassungsentzug stattgegeben, auch wenn die Vertreter der Ärzte sowohl im Zulassungs- als auch im Berufungsausschuss gegen den Entzug gestimmt hatten.

Das Problem der Leistungsverweigerung haben wir erst seit der Budgetierung, seit nämlich die Vergütung einzelner kalkulierbarer Leistungen wie z.B. ambulanter Operationen nicht mehr kostendeckend ist (Hagedorn, M.: Keine vertragsärztlichen Leistungen mit "roten" Zahlen. Bonner Ärztliche Nachrichten III. Quartal 1993, S.2). Diese Kostenunterdeckung war hauptsächlich durch zwei Entwicklungen verursacht:

  1. Der Bewertungsausschuss, jene Institution von Vertretern der KBV und der Krankenkassen, die die Legenden und die Bewertung der einzelnen EBM-Ziffern vornimmt, hat sehr viele der EBM-Leistungen weder zeitnah überprüft noch dem Fortschritt und den Kosten der Leistungserbringung angepasst. Für alle Fachgebiete lassen sich solche Diskrepanzen zwischen alten EBM-Ziffern und der Wirklichkeit nachweisen (Brökelmann, J.: Der EBM ist völlig veraltet. ambulant operieren 1/01,23-24).
  2. Die politisch verordnete Budgetierung und die nachfolgende Verordnung von Beitragssatzstabilität führten zu einem Abfall der Punktwerte, z. B. für ambulante Operationen von 11-12 Pfg./Pkt. in 1990 ? auf Punktwerte von 5 – 8 Pfg./Pkt heute. Dieses ist eine Minderung der Vergütung um etwa 50%.

Beide Entwicklungen, die Nichtanpassung des EBM und der Preisverfall durch politische Maßnahmen, sind nicht von den Vertragsärzten verursacht. Sie sind schwerwiegende Fehlentwicklungen im System der GKV. Wenn diese Fehlentwicklungen zu einer Leistungsverweigerung der Vertragsärzte für Leistungen mit besonders hoher Kostenunterdeckung führen, dann sind sie Ausdruck eines Systemversagens.

Unter Verkennung der Tatsache, dass es sich bei der Leistungsverweigerung von Vertragsärzten um Reaktionen auf ein Systemversagen handelt, hat das BSG mit seinem Urteilen vom März und Juni 2001 die Vertragsärzte noch mehr in die Enge getrieben. Es fordert nämlich eine umfassende Behandlungspflicht des Vertragsarztes auch bei Leistungen "in roten Zahlen" und verbietet jede private Zuzahlung auch für Leistungen, die nicht im EBM enthalten sind. Es fordert de facto eine gleiche Behandlung von Kassenpatienten und Privatpatienten und berücksichtigt nicht, dass die Kassenleistungen nur ausreichend , zweckmäßig und wirtschaftlich sein dürfen, die privatärztlichen Leistungen jedoch optimal sein sollen.

Wenn ein ambulanter Operateur eine Leistung des EBM und eine fortschrittliche Zusatzoperation, die wegen des Systemversagens nicht im EBM enthalten ist, durchführen will, blieben ihm bislang nur drei Wege:

  1. Er führt beide, die EBM-Leistung und die Zusatzoperation, zu EBM-Bedingungen durch. Dann trägt er persönlich die Kosten für die Zusatzoperation.
  2. Er führt nur die EBM-Leistung durch und nicht die Zusatzoperation, auch wenn letztere medizinisch indiziert wäre.
  3. Er stellt sich auf den Standpunkt, dass die Gesamtoperation EBM-Leistung + Zusatzoperation nicht im EBM enthalten ist und er deshalb diese Leistung auch nicht erbringen muss (Verweigerung).

In 1. Fall hat er unter persönlichen, finanziellem Einsatz das System trotz des offensichtlichem Systemversagens unterstützt. Es fragt sich, woher und wie lange er das Geld für die Subventionierung des Systems nimmt.

Im 2. und 3. Fall handelt es sich um praktizierte Zweiklassenmedizin.

Jetzt macht das BSG die 1. Variante zur Pflicht eines jeden Vertragsarztes. Es meint, dass die Leistung nur im EBM "erfasst" sein muss, dann muss sie auch ohne Wenn und Aber erfüllt werden. Das BSG sagt nicht, wie die "Erfassung" konkret aussehen muss. Offenbar ist der allgemeine Begriff "Arthroskopie", "Laparoskopie" oder "Hysteroskopie", wenn er dann im EBM vorkommt, Grund genug, diese Leistung als Kassenleistung erbringen zu müssen. Damit macht das BSG jede Novellierung des EBM überflüssig. Es bürdet den gesamten Fortschritt der Medizin den Vertragsärzten auf. Dieses ist Zwangsarbeit und damit grundgesetzwidrig.

Die jüngsten BSG-Urteile führen dazu, dass immer mehr Vertragsärzte offen oder stillschweigend Zweiklassenmedizin betreiben. Es bleibt den Vertragsärzten aus wirtschaftlichen Gründen meistens gar nichts anderes übrig; denn sie tragen als Freiberufler das volle wirtschaftliche Risiko ihres Arztunternehmens. Solange sich die Kostenunterdeckung der EBM-Leistungen noch in Grenzen hielt, konnte der Arzt durch Mehreinnahmen bei anderen Tätigkeiten das Defizit im Kassenbereich auffangen. Es fand ein innerbetrieblicher Solidaraustausch statt, der auf persönlicher ärztlicher Entscheidung beruhte und nicht im Rahmen der Solidargemeinschaft der GKV stattfand; denn Ärzte sind nicht Mitglieder der Solidargemeinschaft der GKV. Wenn dieser innerbetriebliche Solidaraustausch, d.h. die Quersubventionierung Ausmaße erreicht, die das Überleben der Praxis gefährden, muss der Arzt als Unternehmer handeln und zur Existenzsicherung Leistungen "in roten Zahlen" abbauen. Die Verweigerung von Leistungen "in roten Zahlen" im kassenärztlichen Bereich ist eine solche Notmassnahme des niedergelassenen Arztes. Er wird seine Beziehungen zur GKV lockern und dabei auf seine Rechte als Freiberufler verweisen.

In dieser Situation verlangt das BSG die völlige Unterwerfung des Vertragsarztes unter das System der gesetzlichen Krankenversicherung, wenn es von ihm eine umfassende Leistungserbringung genauso wie bei Privatpatienten unter Inkaufnahme auch schwerer finanzieller Verluste fordert. Damit beraubt das BSG den Vertragsarzt seiner Grundrechte als Freiberufler.

Wenn das BSG über die Rechtsbeziehungen eines Vertragsarztes zu seiner KV urteilt, muss es auf diese Rechtsbeziehungen eingehen und sich auf Gesetze beziehen, die diese Rechtsbeziehung betreffen. Auch das BSG darf nicht ohne gesetzliche Grundlage urteilen. Das BSG bezieht sich aber auf kein Gesetz, wenn es über Kern- und Wahlleistungen oder die Leistungspflichten der Vertragsärzte urteilt. Es bezieht sich auf kein Gesetz, das eine Gleichstellung von kassenärztlicher und privatärztlicher Behandlung vorschreibt. Es wägt nicht ab, ob es bei seinen Urteilen nicht Grundrechte der Betroffenen verletzt. Zu dieser Beachtung der Grundrechte ist aber jedes deutsche Gericht jederzeit verpflichtet.

 

Fazit

Bei den Urteilen des BSG vom 14. März 2001 und 27. Juni 2001 hat das BSG in mehrfacher Hinsicht Grundrechte der niedergelassenen, freiberuflich tätigen Ärzte verletzt: