Der niedergelassene Facharzt passt nicht mehr in das System des deutschen Sozialstaates, er ist aber für das neue Europa gut gerüstet
2002 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 2/2002, 66-68Der
niedergelassene Arzt Sklave des deutschen Sozialstaates
So werden die Vertragsärzte u.a. gezwungen, Leistungen
in roten Zahlen zu erbringen. Alles, was sie Privatpatienten anbieten, müssen
sie auch Kassenpatienten unabhängig von der jeweiligen Vergütung anbieten,
auch wenn sie sich z.B. mit der Operation von Kassenpatienten wegen der
Kostenunterdeckung in den eigenen Ruin operieren würden. Der Vertragsarzt
hat keine Vertragsfreiheit mit den Krankenkassen. Jetzt wird ihm sogar das
Recht auf freie Meinungsäußerung abgestritten. So hat kürzlich das Sozialgericht
Köln das Argument der Krankenkassen akzeptiert, es sei den Krankenkassen
nicht zuzumuten, mit einem Vertragsarzt zusammenzuarbeiten, der sich im
Internet für das System der Kostenerstattung ausspricht; denn Kostenerstattung
sei systemwidrig; deswegen sei es rechtens, ihm die Kassenzulassung zu entziehen
(SG Köln S 19 KA 186/00). Sozialstaatsprinzip gegen individuelle Freiheitsrechte Die Situation in Deutschland ist durch einen Politik-beherrschten,
d.h. ideologisierten, verwaltungstechnisch aufgeblähten Sozialstaat gekennzeichnet.
Creifelds Rechtswörterbuch (2000) definiert den Sozialstaat folgendermaßen:
Sozialstaat wird ein Staat genannt, der
dem Postulat der sozialen Gerechtigkeit in Gesetzgebung, Verwaltung und
Rechtsprechung möglichst weitgehend nachzukommen versucht. Ziel des Sozialstaates ist es
danach, größere soziale Unterschiede innerhalb der Gesellschaft abzubauen
und jeder Bevölkerungsgruppe einen angemessenen Lebensstandard zu sichern.
Das Sozialstaatsprinzip
... begrenzt individuelle Freiheitsrechte. So müssen heute die Vertragsärzte erleben, dass sowohl
die Vertrags-(Koalitions-)freiheit (Art. 9 Grundgesetz GG), die Berufsfreiheit
(Art. 12 GG) und die Eigentumsgarantie (Art. 14 GG) mit dem Argument Gemeinwohl geht vor Grundrechten
eingeschränkt werden. In diesem Sinne argumentierte das Bundesverfassungsgericht
bezüglich der 55-Jahresgrenze für die Vertragsarzt-Zulassung (1 BvR 491/96,
Beschluss vom 20.02.2001). Sachleistungsprinzip gegen freien Dienstleistungsverkehr
in Europa Das deutsche Sozialstaatsprinzip verletzt nicht nur die
Grundrechte der Freiberufler, es begrenzt auch durch sein Sachleistungsprinzip
den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb von Europa und verletzt damit
europäisches Recht. Die Europäische Union (EU)
ist auf die Grundsätze der Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und
nicht zuletzt auf die Achtung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten
aufgebaut. Zu den Grundfreiheiten gehört u.a. der freie Dienstleistungsverkehr.
Nach europäischen Recht hat der freie Dienstleistungsverkehr eindeutig Vorrang
vor nationalen Gesetzen und Regelungen, auch im Gesundheitswesen.
So hat der Europäische Gerichtshof
(EuGH) unter namentlicher Nennung von Deutschland
am 12. Juli 2001 beschlossen: Das Sachleistungsprinzip muss hinter die Grundfreiheiten
zurücktreten (EuGH C-157/99). Dieses bedeutet das Ende des deutschen Sozialstaates
in seiner jetzigen Form. Der niedergelassene Arzt ist in Europa freier Unternehmer Entgegen der Situation in Deutschland hat der niedergelassene
Arzt in der Europäischen Union eine durch Gerichtsentscheide gesicherte
Position als Freiberufler: Er ist Unternehmer (EuGH C-180/98 C-184/98)
und genießt als solcher die Unternehmerfreiheiten nach Artikel 16 der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union. Er genießt Niederlassungsfreiheit,
Berufsfreiheit und Vertragsfreiheit. Die Grenzen seines Handelns sind die
Wettbewerbsregeln der EU. Das europäische Recht definiert Unternehmen funktional
nach dem Motto Unternehmen bewirken
etwas am Markt. Danach zählen alle - niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser,
Krankenkassen, Ärztekammern, KVen und Ärzteversorgungen - zu den Unternehmen. Europa kennt nur Mitgliedsstaaten und Unternehmen,
keine halbstaatlichen Selbstverwaltungsorgane Europa-Parlament verlangt amtliche Gebührenordnung In Anbetracht der Tatsache, dass nationale Gesundheitssysteme
wie das deutsche Selbstverwaltungssystem gegen europäisches Recht verstoßen
können und dass Unternehmen wie Ärzteverbände und Krankenkassen keine Preise
festsetzen dürfen, hat das europäische Parlament schon im Jahre 2000
empfohlen, dass die Mitgliedsstaaten eine einheitliche Basisversicherung
und zusätzliche Krankenversicherungen, d.h. Grund- und Wahlleistungen, einführen
sollen; außerdem hat es im Jahre 2001 beschlossen, dass jeder Mitgliedstaat
eine amtliche ärztliche Gebührenordnung für Freiberufler, also auch für
Ärzte erstellen soll; denn nur solche staatlichen Gebührenordnungen sind
vom europäischen Kartellrecht ausgenommen. Diese für Deutschland wichtige Entwicklung wurde bislang
von der Politik und den Selbstverwaltungsorganen völlig negiert. Auch die
angeblich freie Presse hat die Beschlüsse des Europa-Parlaments nicht verbreitet.
Dass die Regierenden jedoch über die Brisanz der Situation Bescheid wussten,
ist u.a. einer Veröffentlichung von P. Schmidt, dem gesundheitspolitischen
Referenten der SPD-Bundestagsfraktion, zu entnehmen (RPG 7:4 (2001). Schmidt
beschreibt zutreffend, worum es bei der Reform des deutschen Gesundheitswesens
geht: Auf der einen Seite stehen die Befürworter des europäischen Wettbewerbsprinzips
in Gestalt der Grundfreiheiten und des Kartellrechts, auf der anderen Seite
die Befürworter des "deutschen Sonderweges in Form des Korporatismus
und des Sachleistungsprinzips. Dann fährt er fort: Wenn das Sachleistungsprinzip hinter
die Grundfreiheiten zurückzutreten hätte, stünde die klassische
nationale Gesundheitspolitik vor einem Trümmerhaufen. Unser gesamtes Leistungsrecht
wäre in Frage gestellt und müsste wohl durch das Kostenerstattungssystem
ersetzt werden. Dieses schrieb Schmidt vor dem 12. Juli 2001. Am 12. Juli 2001 hat der Europäische Gerichtshof unter
namentlicher Nennung von Deutschland entschieden, dass das Sachleistungssystem
hinter die europäischen Grundfreiheiten zurücktreten muss (EuGH C-157/99).
Damit wissen die SPD und die deutsche Regierung, dass sie das deutsche Sachleistungssystem
in ein Kostenerstattungssystem umwandeln müssen. An dieser Tatsache kommt
auch eine zukünftige deutsche Regierung nicht vorbei. Prinzipien einer europa-orientierten Gesundheitsreform
Mit der Entscheidung des EuGH vom 12. Juli 2001 sind die
Grundlinien einer Reform des deutschen Gesundheitswesens vorgegeben: Der niedergelassene Facharzt ist in Europa also keine aussterbende
Spezies; er ist vielmehr der Träger einer freiberuflichen, spezialisierten
Medizin und der Helfer der in die Mündigkeit entlassenen europäischen Bürger
und Bürgerinnen; er ist der Hoffnungsträger einer ent-staatlichten und ent-ideologisierten
Medizin in Europa.
Die Situation des deutschen niedergelassenen Facharztes, der im System der
gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) eingebettet ist, ist schwierig: Die
Krankenkassen haben den Fachärzten den Kampf angesagt; sie wollen die Fachärzte
am liebsten wieder in das Krankenhaus zwingen, denn dort können sie sie
am besten verwalten. Und da die jetzige Regierung aus SPD und
Grünen die Krankenkassen zum Hauptspieler der Selbstverwaltungsorgane machen
will, sind die niedergelassenen Fachärzte existentiell bedroht. Auf dem
Papier sind niedergelassene Ärzte zwar Freiberufler, die mit ihren Kassenärztliche
Vereinigungen (KVen) eine Arbeitsübereinkunft haben. In Wirklichkeit sind
sie jedoch Sklaven des deutschen Sozialstaates, speziell des GKV-Systems,
das ca. 90 % der Bevölkerung beherrscht.
Das europäische Kartellrecht kennt
nur Unternehmen und Mitgliedsstaaten; es kennt keine Selbstverwaltungsorgane
wie KVen und Krankenkassen. Das heißt, die deutschen Selbstverwaltungsorgane
sind nationale Auslaufmodelle. Sie
müssen europäischem Recht weichen. Sie müssen entweder private Unternehmen
oder unmittelbare Staatsorgane werden.
Die Regierung verschweigt bewusst europäische Vorgaben