"Wer dem System nicht genehm ist, fliegt raus". So weit ist es leider im deutschen Sozialstaat gekommen. Alles im Namen des "Gemeinwohls", über das die obersten Gerichte wachen. Da bleibt wenig Raum für die verfassungsmäßigen Grundrechte der Bürger. Deutschland wird leider wieder von einer Ideologie regiert, die "Solidarität" und den Erhalt des Sozialstaats höher ansetzt als die freiheitlichen Grundrechte der Bürger.
So lautet die Geschichte eines Vertragsarztes, der seine Patientinnen über die damals gesetzlich erlaubte Kostenerstattung informierte:
Seehofer fährt die Kostenerstattung zurück
Der Bundesgesundheitsminister Seehofer führte 1997 im 2. Neuordnungsgesetz (NOG) die Kostenerstattung für alle Versicherten der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) ein. Als die ambulanten Operateure die Kostenerstattung aufnahmen, um eine angemessenere Vergütung für "Leistungen in roten Zahlen" von den Kassen zu erhalten, rief Seehofer öffentlich dazu auf, ihm diejenigen Ärzte zu nennen, die Kostenerstattung praktizieren. Damals meldete sich der 1. Vorsitzende des Bundesverbandes für Ambulantes Operieren e.V. (BAO), Prof. Dr. Brökelmann. In einem Schreiben vom 22.12.1997 an das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen bat dann der Gesundheitsminister die Landesbehörde
"... disziplinarische Maßnahmen gegen ihr Mitglied zu ergreifen."
Begründung: "Nicht nur ambulante Operateure, sondern auch viele andere Vertragsärzte auch geben vor, mit den Vergütungssätzen der gesetzlichen Krankenversicherung wirtschaftlich nicht überleben zu können. Sollte man dieser Einstellung freien Lauf lassen, würde das bisherige vertragsärztliche Versorgungssystem insgesamt in Frage gestellt."
Die Krankenkassenverbände beantragten daraufhin den Entzug der Kassenzulassung von Prof. Brökelmann.
Parallel dazu entschied das Landessozialgericht (LSG) Essen in einem Verfahren gegen die Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein (KVNo), dass der Satz im Honorar-verteilungsmaßstab (HVM) der KVNo
"ärztliche Leistungen, die vom einzelnen Vertragsarzt nicht kostendeckend erbracht werden können, müssen von ihm nicht angeboten werden",
gestrichen werden muss. Auf diesen Passus hatte sich Prof. Brökelmann berufen. Explizit führte das LSG dann aus:
"das Schreiben des Vorsitzenden des Bundesverbandes für Ambulantes Operieren e.V. vom 05.08.1997 an den seinerzeitigen Bundesminister Seehofer belegt für den Senat eindrucksvoll, in welchem Umfang Vertragsärzte ihre Pflichten verkennen und versuchen, rechtsirrige Auffassungen rechtswidrig gegenüber Patienten nur aus monetären Gründen durchzuführen".
Der Zulassungsausschuss der KVNo unter dem Vorsitz eines Vertragsarztes lehnte den Entzug der Zulassung ab.
Der Berufungsausschuss unter dem Vorsitz eines Kassenvertreters votierte am 31.05.2000 für den Entzug.
Das Sozialgericht Köln urteilte am 06.02.2002
"in dem vom Kläger ... angewandten Verfahren, gesetzlich Krankenversicherten ... ambulante Operationen anzubieten, sieht die Kammer einen derart intensiven Verstoß gegen vertragsärztliche Pflichten, dass dem System der gesetzlichen Krankenversicherung seine weitere Teilnahme nicht mehr zugemutet werden darf."
Des weiteren
"die Kammer sieht zunächst einen Verstoß gegen vertragsärztliche Pflichten darin, dass der Kläger gesetzlich Krankenversicherte veranlasste, für ambulante Operationen das Kostenerstattungsverfahren zu wählen".
"... zwingen nach Auffassung der Kammer systematische Gründe, den Arzt grundsätzlich zu verpflichten, sein gesamtes Leistungsangebot - soweit es im System abrechenbar ist - den gesetzlich Krankenversicherten zur Verfügung zu stellen. Sofern jeder Vertragsarzt entsprechend seinen eigenen Wirtschaftlichkeitsüberlegungen zur Gewinnmaximierung gesetzlich Krankenversicherten nur Leistungen zur Verfügung stellt, die er im Rahmen seiner Patientenstruktur und -organisation für profitabel hält, muss dieses das System von innen her auflösen."
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen verkündete dann am 30.10.2002
"eine gröbliche Pflichtverletzung ... liegt vor, wenn durch sie das Vertrauen der Kassenärztlichen Vereinigung und der Krankenkassen insbesondere in die ordnungsgemäße Behandlung der Versicherten und in die Rechtmäßigkeit der Abrechnungen durch den Arzt so gestört ist, dass diesem eine weitere Zusammenarbeit mit dem Arzt nicht zugemutet werden kann. Dieser Arzt ist dann zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung nicht (mehr) geeignet; denn die Funktionsfähigkeit des von anderen geschaffenen und finanzierten Leistungssystems der gesetzlichen Krankenversicherung, an denen der Arzt durch seine Zulassung teilnimmt, hängt in dem hier zu betrachtenden Teil der vertragsärztlichen Versorgung entscheidend mit davon ab, dass die Kassenärztliche Vereinigung und die Krankenkassen auf die ordnungsgemäße Leistungserbringung und auch die peinlich genaue Abrechnung der zu vergütenden Leistungen vertrauen können."
"Die Zulassungsentziehung darf deshalb unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur ausgesprochen werden, wenn sie das einzige Mittel zur Sicherung und zum Schutz der vertragsärztlichen Versorgung ist."
"Auch nach den Feststellungen des Senates ist das Vertrauensverhältnis jedenfalls zu den Krankenkassen derart grundlegend gestört, dass diesen eine weitere Zusammenarbeit mit dem Kläger nicht mehr zuzumuten ist und damit durch eine weitere Zulassung des Klägers die Funktionsfähigkeit des Systems der vertragsärztlichen Versorgung gefährdet wäre."
"Die Störung des Systems der vertragsärztlichen Versorgung und der gesetzlichen Krankenversicherung seitens des Klägers zeigt sich auch darin, dass er andere Systembeteiligte provokativ mit unnützen Verfahren überzogen hat. So hat er in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes versucht, letztlich auf Satzungsbestimmungen einer gesetzlichen Krankenkasse einzuwirken."
Das Bundessozialgericht wies am 16.07.2003 die Nichtzulassungsbeschwerde ab, weil
"dem 'Wohlverhalten' eines Arztes während des Streits über die Zulassungsentziehung grundsätzlich geringeres Gewicht zukommt als schwerwiegende Pflichtverletzungen in der Vergangenheit, die zur Zulassungsentziehung geführt haben."
Seehofer und die Regierungskoalition führen die Kostenerstattung wieder ein
Die von der jetzigen Bundesregierung bekämpfte und 1998 abgeschaffte Kostenerstattung wird zurzeit wieder gesetzlich verankert: Der Gesetzesentwurf (Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung GMG) vom 8.9.2003 sieht vor, dass alle Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung GKV ab dem 1.1.2004 Kostenerstattung wählen dürfen. Der Druck aus Europa machte es offenbar möglich - alles ist politisch.
Gedanken zu unserem Sozialsystem
Der Rechtsstreit um die Freiheiten der Vertragsärzte ist vorläufig verloren. Das GKV-System, in dem die großen politischen Parteien, die Krankenkassen, die Sozialgerichte und die KVen kooperieren, konnte den Systemkritiker rauswerfen. Hiermit wird bestätigt, dass dieses GKV-System freiberuflich tätige Ärzte zu Sklaven des Systems machen will und Gesinnungsfeinde mit Hilfe der Sozialgerichte ausschaltet.
Das Bedrückende an dieser ganzen Geschichte ist, dass heute in der Bundesrepublik Deutschland ein Bürger verurteilt werden kann und ihm damit nach Aussagen des Gerichts in der Regel auch die Existenz entzogen wird, ohne dass er ein Gesetz verletzt hat - nur weil er die damals gesetzlich erlaubte Kostenerstattung, die den 'Systemlenkern' politisch nicht in das Konzept passte, praktizierte.
Nur, weil er angeblich gegen den 'Geist' des Sozialsystems verstieß. Der 'Geist' des GKV-Systems, das sind u.a. im Nachhinein aufgestellte 'vertragsärztliche Pflichten', sind eine nachgeschobene Argumentation der 'Systemlenker'. Sie sind politischer Natur und stellen nicht Gesetz dar. Auf der anderen Seite stehen jedem Bürger laut Grundgesetz Rechte zu, u.a. das Recht auf freie Berufsausübung, das Recht auf Eigentum, das Recht auf freie Meinungsäußerung. Jedes Gericht muss vor einer Urteilsverkündung prüfen, ob diese Grundrechte der Bürger gewahrt wurden. Obwohl im vorliegenden Fall gefordert, haben die beteiligten Gerichte keine schriftliche Abwägung der Verfassungsmäßigkeit ihrer Entscheidung vorgenommen. "Es kann den Krankenkassen nicht zugemutet werden, mit Prof. Brökelmann zusammenzuarbeiten", war ihr Hauptargument für den Zulassungsentzug. Dieses ist ein Argument, das der emotionalen Ebene zugerechnet werden muss. Es wurde herangezogen und die Grundrechte eines Bürgers missachtet, um das 'System' zu erhalten.
Dieses ist besonders bedrückend für einen Bürger, dem bewusst ist, dass schon einmal oberste deutsche Gerichte mehr der herrschenden Ideologie als dem Gesetz folgten. Auch der deutsche Sozialstaat basiert auf einer Ideologie. Wiederum setzen sich deutsche Gerichte für die jetzt herrschende Staatsideologie ein. Beispiel: Das Bundesverfassungsgericht hält die 55-Jahresgrenze für den Eintritt in das GKV-Vertragsarzt-System für gerechtfertigt, weil es das 'Gemeinwohl' rechtfertigt, obwohl das Grundrecht des Einzelnen auf freie Berufsausübung verletzt wird (Brökelmann 2001). Es gibt Verfassungsrechtler, die dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts für verfassungswidrig erklärten.
Frau Renate Jaeger, Vorsitzende Richterin am Bundesverfassungsgericht (BVG), glaubt, dass das BVG die letzte Instanz ist, die dem Gedanken der Solidarität noch anhängt (Gerster 2003).
Der Kampf um die Freiberuflichkeit der niedergelassenen Ärzte geht weiter. Wir müssen ihn selbst kämpfen, vor Ort in unseren Praxen als freie Unternehmer; denn der deutsche Staat und die deutschen Gerichte werden uns nicht helfen. Nur Europa billigt den niedergelassenen Ärzten ausdrücklich die Unternehmerfreiheiten zu (Artikel 16 der Grundrechte der Charta der Europäischen Union).
Literatur
Brökelmann, J. 2001: Bundesverfassungsgericht betätigt sich politisch. ambulant operieren 4/2001,193 (Auszüge: www.arzt-in-europa.de)
Gerst, T.: Deutsches Ärzteblatt 4. April 2003, S. A887 (Auszüge: www.arzt-in-europa.de)