Der SPD-Bundestagsabgeordnete Eike Hovermann hat in seinem Referat auf der Diskussionsveranstaltung Gesundheitspolitik 2006 Wird es ein 'heißer' Sommer? am 10. Februar in Berlin eine Bestandsaufnahme zur Finanzsituation des Bundes, der Länder und der Sozialsysteme vorgelegt und zugleich sehr interessante Lösungsperspektiven aufgezeigt.
Seine Stellungnahme hatte zunächst besondere Aufmerksamkeit gefunden, als er mitteilte, dass das Eckpunktepapier zur Reform des Vertragsarztrechtes zurückgezogen sei. Das sei ein ganz normaler Vorgang, wird der Abgeordnete in dem Online-Nachrichtendienst für Ärzte zitiert. Als Grund nannte er Inkompatibilitäten, die innerhalb der Regierungskoalition noch diskutiert werden müssten.
Bei der Darstellung der Finanzsituation bezog sich der Gesundheitsexperte der SPD auf Aussagen von Bundesfinanzminister Peer Steinbrück:
- Bundesfinanzminister Peer Steinbrück hat zu der Thematik Wachstum durch weitere Schulden daran erinnert, dass derzeit 1,5 Billionen Euro Schulden auf allen staatlichen Ebenen lasten. Also beim Bund, bei den Bundesländern, den Landkreisen und Kommunen. Mit Pensionsverpflichtungen und anderen unverbrieften Schulden liegt das Gesamtvolumen wohl bei rund 4 Billionen. Die duale Krankenhausfinanzierung als pars pro toto" (= ein Teil für das Ganze) Beispiel wird hier nachhaltig einbrechen. Das wird Folgen haben für den ambulanten Bereich und die Sicherstellungsfrage.
- 11 Bundesländer haben derzeit keinen verfassungskonformen Haushalt mehr. Das wird nicht nur gemäß NRW-Landesfinanzminister Linssen noch auf Jahre eine Last bleiben.
- Die drei Prozent EU-Verschuldungsgrenze kann nicht beliebig umgangen werden, ebenso nicht Paragraph 115 GG, in dem es um Begrenzungen für Kredite geht.
- Die Mehrwertsteuer wird auch die Kostenentwicklung im Gesundheitsbereich berühren, die Bundeszuschüsse sinken ab und anderes mehr. All dies wird kontinuierlich ausstrahlen auf das GKV-Leistungsgeschehen. Und auf den Beitragsatz.
- Das Wachstum wird cum grano salis (wörtlich: mit einem Körnchen Salz, hier: mit gewissen Einschränkungen) in 2006 zwischen 1 bis 1,5 % liegen können, dann eher wieder sinken. Es wird aber keinesfalls in den Alt-Industrieländern auf ein nachhaltiges Wachstum von 2,5 3 % für neue Arbeitsplätze und damit neue Beitragszahler steigen.
- Durch die Ausweitung des freien Waren- und Dienstleistungsverkehrs in der sich erweiternden EU auch im Gesundheitsbereich wird ein härter werdender Konkurrenzkampf von Leistungsanbietern und Kassen entstehen, der das Überleben mancher Versorgungs- und Versicherungsstrukturen mehr als in Frage stellen wird.
Bei der Darstellung von Lösungsperspektiven sind in dem Referat von Hovermann einige Ansatzpunkte zu erkennen, die so in der öffentlichen Programmatik seiner Partei (SPD) noch nicht zu vernehmen waren. Insofern ist das Referat ein Beitrag für die weitere Reformdiskussion. Das sind die wichtigsten Punkte:
- Wir haben derzeit im GKV-Beitragstopf rund 145 Mrd. Euro, das ist im Vergleich mit allen EU-Ländern und z. B. den USA eines der größten Einnahme- wie Ausgabevolumen.
- Eine Steigerung der Einnahmen ist auf Grund der skizzierten Rahmenentwicklungen nicht zu erwarten. Wenn mehr und anderes Geld flösse, wären auch automatisch mehr Nehmer im GKV-Bereich da.
- Zusätzliche oder alleinige Steuerfinanzierungen sind nicht darstellbar. Jedes zusätzliche Geld würde im System versickern.
- Im Rahmen von rd. 145 Mrd. Euro pro Jahr muss eine Grundversorgung so flexibel definiert werden, dass sie an Mehr- oder Mindereinnahmen angepasst werden kann.
- Ein Puffer sollte ebenso eingebaut sein wie das totale und auch kontrollierbare Verbot von Verschuldungen.
- Alles über 145 Mrd. Euro hinausgehende muss auf Dauer durch Zusatzpakete eigenfinanziert werden unter Wegfall aller Zuzahlungen und sonstiger bisheriger 'Eigenfinanzierungen'.
- Die Definition der Grundversorgungspakete sollte die Politik nicht leisten und auch nicht beschließen wollen. Sie muss entweder über die bisherige Selbstverwaltung oder durch die Kassen erfolgen, zumal zu erwarten steht, dass über kurz oder lang der Status Körperschaft öffentlichen Rechts seitens der EU für die Mitglieder des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) weiter erodiert bzw. wegfällt. Die deshalb sich anbahnende Entwicklung bei den Kassenärzlichen Vereinigungen (KVen) hin zu ,,Consultings" ist schon deutlich fühlbar.
- Im Zusammenhang mit der Grundversorgung ist durch Festzuschussregelungen ein sinnvoller Verbund zwischen Grundversorgung und Zusatzpaketen sicherzustellen.
- Die Private Krankenversicherung (PKV) sollte dabei ihren Platz als selbständiger Mitwettbewerber und Mitfinanzier behalten. Alles andere zöge neben der Tendenz zu einer Einheitskasse überdies jahrelange Streitverfahren über Berufsfreiheit, Eigentumsschutz und anderes vor höchsten Gerichten nach sich.
- Auf diese Weise könnte der Dialog über sinnvolle, effiziente Behandlungen und Kosten aus den Korsettstangen staatlicher Regulierungsvorgaben herausgeholt und verlagert werden in Gespräche zwischen Beitragszahler/Patienten, Kassen und Leistungserbringern.
Die Prognose des Sozialexperten für die laufende Reformdiskussion: Es wird keinen 'Big Bang' in der Gesundheitspolitik geben, keinen großen Schlag, mit dem alle verkrusteten Strukturen und zementiert scheinenden Interessen auf einmal aufgelöst und in ein neues planungssicheres und verlässlicheres System überführt werden können.