Zusammenfassung
Das Ergebnis dieser Analyse widerspricht der These des Historikers Ralf
Forsbach, dass Prof. Harald Siebke, ehemaliger Ordinarius der
Frauenklinik Bonn, aus einer nationalsozialistischen Gesinnung heraus
die Frauenklinik zum „Hauptschauplatz der nationalsozialistischen
Medizinverbrechen“ gemacht hatte. Im Gegenteil, sie untermauert die
publizierten Ansichten, dass Siebke eher anti-nationalsozialistisch
eingestellt war und auch danach handelte. Sie zeigt außerdem, dass die
von Forsbach genannten Zahlen der Anträge auf Sterilisation mit
Wahrscheinlichkeit auf eine fehlerhafte Interpretation einer
Sammelkartei des Gesundheitsamtes Bonn, einer sog. Erbkartei,
zurückzuführen sind.
Summary
The results of his analysis contradict the assumption of the historian
Ralf Forsbach that Prof. Harald Siebke, head of the Women's Hospital of
the University of Bonn, transformed this Women's Hospital into a
„principal theatre of Nazi medical crimes“. On the contrary, the
results support published opinions that Siebke rather was oriented
anti-nazi and acted accordingly. They also show that the number of
applications for sterilisation mentioned by Forsbach probably can be
traced back to an incorrect interpretation of an accumulative card
index of the health authorities of Bonn, a so-called hereditary
register.
Schlüsselwörter:
Sterilisation, NS-Verbrechen, Siebke, Frauenklinik Bonn, Erbkartei,
key words: sterilisation, nazi
crimes, Siebke, Women's Hospital Bonn, hereditary register
Einleitung
Im Jahre 2006 veröffentlichte Dr. phil. Ralf Forsbach sein Buch „Die
Medizinische Fakultät der Universität Bonn im `Dritten Reich´“ [1], mit
dem die Medizinische Fakultät Bonn ihn 2006 habilitierte. Er
bezichtigte darin u.a. den ehemaligen Ordinarius der
Universitäts-Frauenklinik Prof. Dr. Harald Siebke der NS-Verbrechen.
Dieses ist eine Meinung, die den Veröffentlichungen zur Geschichte der
Universitäts-Frauenklinik Bonn dieser Zeit entgegensteht.
Da es offenbar unterschiedliche Auffassungen vom Wirken der
Hochschul-professoren im „Dritten Reich“ gibt, sollen im Folgenden die
Fakten und Interpretationen, mit denen Forsbach seine „neue“ Ansicht
untermauert, diskutiert werden. Dieses geschieht besonders in Hinblick
darauf, welches Geschichtsbild zukünftige Arzt-Generationen von den
ehemaligen Lehrstuhlinhabern erhalten und welche Voraussetzungen für
den wissenschaftlichen Umgang mit Medizingeschichte erfüllt sein sollen.
Sachverhalte
Geschichte der Frauenklinik
Bonn zur NS-Zeit
In einer Kurzbiographie über Harald Siebke (1899-1964) schilderte 1986
dieser Autor [2], dass es Siebkes wissenschaftliche Verdienste,
besonders in der Hormonforschung, waren, die ihm 1935 den Ruf auf den
Bonner Lehrstuhl eingebracht hatten.
Zum 100. Geburtstag von Harald Siebke im Jahre 1999 hielt dieser Autor
im Rahmen der „Bonner Woche“ einen Vortrag, der auch als Redemanuskript
verteilt wurde [3]. Darin nahm er u.a. zu der Frage Stellung, welche
Haltung Siebke gegenüber dem Nationalsozialismus vertrat. Zitat:
„Nun bleibt noch die Frage, wo Siebke 1935 politisch stand. Hierüber
geben die Unterlagen für das Entnazifizierungsverfahren [4] Auskunft:
- „Am Tage nach seiner Amtsübernahme ließ Siebke alle Türen der
geschlossenen Abteilung, in der die Patientinnen zur
Zwangssterilisation nach dem Erbgesundheitsgesetz untergebracht waren,
öffnen. Er ließ ein Taufzimmer in der Frauenklinik einrichten, obwohl
dieses von den Nazis für alle deutschen Kliniken verboten war. Über
1000 Neugeborene wurden dort getauft. Sowohl der protestantische als
auch der katholische Geistliche durfte trotz eines Nazi-Verbotes
jederzeit zu Patientinnen der Frauenklinik gehen. Am Eingang der
Frauenklinik war ein Schild aufgehängt, das zum Hitlergruß aufforderte.
Siebke ließ es entfernen, über 200 Jüdinnen und Ost- Arbeiterinnen
wurden über die Jahre in der Frauenklinik behandelt, bis diese 1944 bei
einem Bombenangriff ausbrannte.
- „Als die Amerikaner 1945 anrückten, kam der Befehl, die Universität
nach rechtsrheinisch zu verlegen. Die Medizinische Fakultät unter dem
Dekan Siebke war die einzige Bonner Fakultät, die den Führerbefehl
mißachtete. Die Medizinische Fakultät, der damals so bekannte
Professoren wie Martini, von Redwitz und Stöhr angehörten, war
bekanntermaßen anti-nazi eingestellt. Nach dem Krieg wurde Siebke
entnazifiziert, weil er nach Überzeugung der Kommission den Nazis aktiv
Widerstand geleistet hatte.
- „Danach baute Siebke die Frauenklinik wieder auf und war nach den
schriftlichen und mündlichen Bezeugungen seiner Zeitgenossen ein sehr
guter Arzt, ein Meister der Rede und ein überzeugter Christ.“
Die intensiven Nachforschungen von Dr. Hans-Paul Höpfner (1999) [5]
ergaben, dass Siebke als Dekan der Medizinischen Fakultät besonderes
Gewicht darauf gelegt hatte, die Rechte der Fakultät gegenüber der
Partei zu wahren. Zu Siebkes NS-Vergangenheit berichtete Höpfner:
„Nach dem übereinstimmenden Urteil aller unbelasteten
Fakultätsmitglieder nach 1945 war Siebkes Bekenntnis zum
Nationalsozialismus nur äußerlich.
„Es spricht für Siebkes lauteren Charakter, daß er 1945, im Gegensatz
zu allen anderen entlassenen Professoren, die vielfach später ihre
Ämter per Gerichtsbeschluß zurückholten, der Fakultät anbot, freiwillig
zurückzutreten, falls der Klinik durch seine Parteimitgliedschaft ein
Nachteil entstanden sei.“
Die Ansicht, dass „Zwangssterilisierungen“ [6] an der
Universitäts-Frauenklinik Bonn „NS-Verbrechen“ darstellten, wurde im
Jahre 2002 von Dr. Forsbach in einem Vortrag anlässlich der Ausstellung
„Gewissenlos – Gewissenhaft. Menschenversuche im Konzentrationslager“
[7] öffentlich thematisiert [8].
In einem weiteren Vortrag zu Sterilisationen trug Forsbach nach
Presseberichten 2005 [9] vor:
„Ein NS-Schauplatz war die Uni-Frauenklinik, bis zu 4000
Zwangssterilisationen wurden dort durchgeführt.“
Um Aufklärung und Daten zu den angeblichen 4000 Sterilisierungen an der
Frauenklinik gebeten, sandte Prof. Dr. Dr. Heinz Schott, Direktor des
Medizinhistorischen Instituts Bonn und Betreuer der Habilitationsarbeit
von Forsbach, diesem Autor folgende Daten, die von Dr. Forsbach
zusammengestellt worden waren:
„Die Kartei des ehemaligen Erbgesundheitsgerichts Bonn verzeichnet 4430
von Anträgen auf Sterilisierung Betroffene, 2751 Männer und 1679 Frauen.
„Für das gesamte Jahr 1934 zählte der Pohlisch-Schüler Werner Gelhard
dort 305 Sterilisationen, davon 151 bei Frauen.
„Einen Monat nach Kriegsende hat Obermedizinalrat Josef Geller eine
Aufstellung vorgelegt, nach der 322 Männer und 87 Frauen, die in der
Provinzialanstalt untergebracht waren, sterilisiert worden sind -
allein in der Zeit von 1939 bis 1944. Diese Sterilisationen dürften
sämtlich in den Universitätskliniken vorgenommen worden sein.“
Das Hauptwerk von Dr. Ralf Forsbach (2006) sollte „eine
wissenschaftliche Untersuchung über die Medizinische Fakultät in der
Zeit des Nationalsozialismus“ werden, wie es vom damaligen Dekan der
Medizinischen Fakultät Professor Hans-Jürgen Biersack angeregt wurde –
so Professor Heinz Schott im Geleitwort. In dem Werk wird die
Frauenklinik wegen ihrer Einbindung in die Sterilisierungen nach dem
GeZVeN als „Hauptschauplatz der nationalsozialistischen
Medizinverbrechen“ (Seite 237) genannt. Weiter heißt es unter „Tatort
Frauenklinik“: „Die Frauenklinik wurde zu einem Hauptschauplatz
nationalsozialistischer Verbrechen“ (Seite 517); Siebke sei
NSDAP-Mitglied und an NS-Verbrechen beteiligt gewesen (Seite 239).
Das Politisches Umfeld 1933-1945
Sebastian Haffner, Jurist und Zeitzeuge, schrieb 1939 [10] über den
Beginn der NS-Herrschaft im Jahre 1933 und danach:
„Freilich musste noch etwas hinzukommen...: das war der feige Verrat
aller Partei- und Organisationsführer, denen sich die 56 Prozent
Deutsche, die noch am 5. März 1933 gegen die Nazis wählten, anvertraut
hatten.“ (Seite 126)
„Die meisten Deutschen befinden sich heute [11] bekanntlich in einer
Gemütsverfassung, die sich für den normalen Betrachter schlechthin als
Geisteskrankheit oder mindestens als schwere Hysterie darstellt.“
(Seite 185)
„Die Nazis hatten uns, auf Gnade und Ungnade, in der Hand. Alle
Festungen waren gefallen, jeder kollektive Widerstand war unmöglich
geworden, individueller Widerstand nur noch eine Form des
Selbstmordes.“ (Seite 186)
„Wer sich weigerte, Nazi zu werden, hatte eine böse Situation vor
sich: völlige und aussichtslose Trostlosigkeit; wehrloses Hinnehmen
täglicher Beleidigungen und Demütigungen; hilfloses Mitansehen des
Unerträglichen; vollkommene Heimatlosigkeit; unqualifiziertes Leiden.“
(Seite 187)
Zu Nazis und deren Mitläufern äußerte Sebastian Haffner [12]:
„Die so durch den Augenschein Hitlerscher Leistungen Bekehrten oder
Halbbekehrten wurden im allgemeinen keine Nationalsozialisten; aber sie
wurden Hitleranhänger, Führergläubige. Und das waren auf den
Höhepunkten der allgemeinen Führergläubigkeit wohl sicher mehr als
neunzig Prozent aller Deutschen.“
Nach Martin Rüther (1997) [13] wurden den Ärzten durch die
Reichsärzteordnung vom 13. Dezember 1935 öffentliche Aufgaben
übertragen und die Ärzteschaft insgesamt verpflichtet ... „zum Wohle
von Volk und Reich für die Erhaltung und Hebung der Gesundheit, des
Erbgutes und der Rasse des deutschen Volkes zu wirken“.
Christian Tomuschat (2007) [14] sah keine Möglichkeit, damals
gerichtlich gegen das NS-Regime vorzugehen: „Aus rechtlicher Sicht
konnte niemand dem unheilvollen Treiben Einhalt gebieten, Grenzen
ziehen, ein Gerichtsverfahren einleiten.“
Der Schriftsteller Günter Grass sprach 2009 von einer „Nazi-Verblendung
bis 1945“, als Jugendlicher und Zeitzeuge kannte er nichts anderes.[15]
Diskussion
Das Neue in der Darstellung der NS-Zeit durch Ralf Forsbach ist, dass
Zwangssterilisationen, die als solche bekannt waren, als
„NS-Verbrechen“ bezeichnet und gebrandmarkt werden. In seinem
umfassenden Werk gibt Forsbach keine Definition des Begriffs
„NS-Verbrechen“ und keinen Grund, warum er Zwangssterilisationen als
„NS-Verbrechen“ bezeichnet. Er setzt sich weder mit der bestehenden
Literatur zur Geschichte der Bonner Medizinischen Fakultät noch mit der
Literatur über das Erbgesundheitsgesetz [16], das seit 1933
Sterilisationen unter Zwang erlaubte, auseinander.
Tatsache ist, dass sowohl die amerikanische Militärregierung (1947)
[17] als auch das Zentral-Justizamt für die britische Zone [18] dieses
Erbgesundheitsgesetz nicht als nationalsozialistisch angesehen und
seine Anwendung sogar im Wiederaufnahmeverfahren genehmigt haben. Der
Bundestag hat erst 1988 Zwangssterilisierungen ein
„nationalsozialistisches Unrecht“ genannt.19
Zur Bewertung des Erbgesundheitsgesetzes in der deutschen
Rechtsprechung seien beispielsweise die Ausführungen des
Oberlandesgerichts Hamm (1954) zitiert [20]:
„Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14.7.1933 (RGBl. I
529) ist in gesetzmäßiger Form zustande gekommen und stellte gültiges
Recht dar. Der Ansicht, das Gesetz verstoße gegen das Naturrecht oder
gegen rechtsstaatliche Grundsätze, ist nicht beizupflichten. Die Frage,
was Naturrecht und rechtsstaatliche Grundsätze gebieten und verbieten,
ist von jeher im Wandel der Zeiten wechselnden Anschauungen unterworfen
gewesen. Der Gedanke, erbkrankem Nachwuchs durch gesetzgeberische
Maßnahmen vorzubeugen, ist jedenfalls in Deutschland und anderen
Ländern schon vor 1933 erörtert worden.“
Bezüglich der Veröffentlichungen zum „Gesetz zur Verhütung erbkranken
Nachwuchses“ gibt WIKIPEDIA eine Zusammenfassung [21]. Das Gesetz wurde
bislang nicht aufgehoben, jedoch geächtet.
Über die Literatur zu Sterilisationen und zum „Gesetz zur Verhütung
erbkranken Nachwuchses (GezVeN)“ haben kürzlich R. Jütte und H.-W.
Schmuhl veröffentlicht [22]. Sie verwenden den Ausdruck „NS-Verbrechen“
nicht im Zusammenhang mit Sterilisationen.
Die Stellungnahmen des Deutschen Bundestages und der Gerichte zum
Erbgesundheitsgesetz dürften auch der Grund dafür gewesen sein, warum
die Sterilisationen nicht zu den NS-Verbrechen gerechnet wurden. Wenn
Forsbach in seinem Buch 2006, S. 526 konstatiert, dass
„Sterilisationsverbrechen offenbar auch bei den um Aufklärung der
Vorgänge Bemühten keine Rolle spielten – sei es aus Unkenntnis, sei es
aus mangelndem Bewusstsein für das Unrecht –“ , dann unterstellt er -
ohne Begründung - diesen Wissenschaftlern Unkenntnis und mangelndes
Bewusstsein für Unrecht.
Da in der Literatur keine Abgrenzung zwischen NS-Verbrechen und
NS-Unrecht gefunden werden konnte, wurde die Zentrale Stelle der
Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer
Verbrechen gefragt. Staatsanwalt/GL Dr. Riedel gab folgende Auskunft
(2009) [23]:
„NS-Unrecht“: Zum einen als Oberbegriff speziell für alle
Straftaten des NS-Regimes oder aber, wesentlich weiter gefasst, als
Summe aller Verstöße des NS-Regimes gegen das Recht, außer im
Strafrecht auch im Zivil-, Verwaltungs-, Staatsrecht usw.;
„NS-Verbrechen“: Zum einen umgangssprachlich/untechnisch als
Oberbegriff für alle Straftaten des NS-Regimes oder aber
juristisch-technisch als Bezeichnung nur für solche Straftaten des
NS-Regimes, die im Strafgesetzbuch speziell als „Verbrechen“
gekennzeichnet sind [...]“
Offenbar hat der Historiker R. Forsbach den Begriff „NS-Verbrechen“ im
umgangssprachlichen, untechnischen Sinne benutzt. Dann muss er sich
aber auch den Vorwurf gefallen lassen, in seiner Habilitationsschrift
unwissenschaftlich im medizinischen und rechtlichen Sinne gearbeitet zu
haben. Das klassische, auf Aristoteles zurückgehende
Ideal ist die völlige Neutralität der Forschung, sie sollte autonom,
rein, voraussetzungs- und wertefrei sein.
Aber auch die Meinungsfreiheit, das Verhalten anderer nach eigenem
Gutdünken umgangssprachlich als „Verbrechen“ bezeichnen zu dürfen, hat
ihre Grenzen. So urteilte das Oberlandesgericht Karlsruhe, dass ein
Abtreibungsgegner die Schwangerschaftsabbrüche durch Ärzte, die er auf
seiner Internetseite namentlich aufführte, nicht mehr als „Mord“
bezeichnen darf [24]. Dieses gelte besonders, wenn ein Hinweis auf die
Straffreiheit einer Abtreibung, die den gesetzlichen Anforderungen
genügt, fehlt.
Die Sterilisierungen während der NS-Zeit waren gesetzlich erlaubt und
damit straffrei. In Analogie zum Begriff „Mord“ bei gesetzlich
erlaubten Schwangerschaftsabbrüchen kann man durchaus diskutieren, ob
diese Sterilisierungen bei namentlicher Aufführung der Ärzte und ohne
Hinweis auf die gesetzliche Straffreiheit derselben heute als
„Verbrechen“ bezeichnet werden dürfen.
Das Umfeld von 1933 bis 1945 wurde von Forsbach weitgehend
ausgeblendet. Nur auf Seite 696 erwähnt er „spezifische
Bedingungen eines Unrechtsstaates“ und auf Seite 698 die
„Aussichtslosigkeit“ einer Totalverweigerung. Er berücksichtigt nicht,
dass die Mehrheit des Deutschen Volkes 1933 bis 1945 nicht überzeugte
Nationalsozialisten, sondern „Hitleranhänger, Führergläubige“, kurz
Mitläufer waren (so Haffner 1939, siehe oben).
Dieses Phänomen, warum ein ganzes Volk einer Ideologie erlag, gilt es
zu erforschen, und das sachlich. Es ist wenig hilfreich, nur eine
Berufsgruppe herauszugreifen und sie als „verbrecherisch“ zu
brandmarken. Forsbach wählte die Medizinischen Hochschullehrer, die
wegen ihres Beamtenstatus noch mehr als das Gros der Bevölkerung
gezwungen waren, dem NS-Staat zu dienen und seine Gesetze und
Anweisungen zu befolgen. Er wirft ihnen pauschal „Verbrechen“ vor.
Damit gibt er eine persönliche, moralisierende Meinung wieder und setzt
sich dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit aus.
Das Werk von Forsbach wurde von der Medizinischen Fakultät der
Universität Bonn als Habilitationsschrift 2006 anerkannt. Es
fragt sich, ob die Gutachter in diesem Habilitationsverfahren das
umfangreiche Werk wirklich studiert haben. Hat niemand gemerkt, dass
der Vorwurf eines „Verbrechens“ von Forsbach nicht begründet wurde? Da
der Ausdruck „Verbrechen“ auch und gerade ein juristischer Begriff ist,
muss gefragt werden: Wurde vor der Publikation und während des
Habilitationsverfahrens ein Jurist als Gutachter hinzugezogen?
Nach Auskunft der Habilitationskommission der Medizinischen Fakultät
Bonn vom 29. Juni 2011 dürfen die Gutachter zum Habilitationsverfahren
von Herrn PD Dr. Forsbach nicht benannt werden. Diese Entscheidung
blockiert jede weitere Nachforschung in dieser Richtung.
Forsbachs Werk erhielt 2007 einen Forschungspreis vom
Bundesgesundheits-ministerium, der Bundesärztekammer und der
Kassenärztlichen Bundesvereinigung gemeinsam [25]. Das heißt, es wurde
die Wissenschaftlichkeit dieses Werkes begutachtet und preisgekrönt.
Wie streng sind heute die Anforderungen an die Wissenschaftlichkeit von
Forschungsarbeiten?
Die Arbeit ist sehr umfangreich - 767 gedruckte Seiten -, sie hat 3.748
Fußnoten und ca. 990 Literaturnachweise. Ein Gutachter wird einige
Wochen benötigen, um sie sorgfältig durchzulesen. Zusätzlich muss er
Erfahrung auf diesem Gebiet haben, um z. B. erkennen zu können, dass
eine Aussage wie diejenige, „in der Frauenklinik wurden zwischen 1934
und 1945 bis zu 4000 Sterilisationen durchgeführt“ (siehe Forsbach
2005), hinterfragt werden muss. Das wären bis zu 4000 Leibschnitte mit
Unterbrechung der Eileiter, eine für die damalige Zeit ungewöhnlich
hohe Zahl von Leibschnitten in einer einzigen Frauenklinik.
Tatsächlich sind auf Rückfrage nur die in Tab. 1 aufgelisteten Zahlen
belegt. Mit diesen Zahlen widerlegt Forsbach selbst seine früher
gemachten Aussagen, dass bis zu 4.000 Sterilisationen in der
Universitäts-Frauenklinik stattgefunden hätten.
Von 1934 bis 1944 wurden laut Tab. 1 insgesamt 449 Frauen der
Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn sterilisiert. Die
Sterilisierungen fanden wahrscheinlich in der Universitäts-Frauenklinik
Bonn statt. Dort wurden – laut Angaben von Forsbach (2005), der Josef
Geller zitiert (s. oben) – für den Zeitraum 1939 - 1944 insgesamt 87
Frauen sterilisiert. Dieses stimmt mit der Anzahl der sterilisierten
Frauen der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn überein (s. Tab.1).
In der Universitäts-Frauenklinik Bonn wurden in der Zeit von
1.4.1934 bis 30.9.1935 unter dem Ordinariat von Otto von Franqué
233 Frauen sterilisiert und in der Zeit 1.10.1935 bis 1944 unter dem
Ordinariat von Harald Siebke 216 Frauen (s. Tab.1). Die Aussage
Forsbachs auf Seite 237 seines Buches, nämlich „Die Frauenklinik wurde
mit der Emeritierung Franqués zu einem Hauptschauplatz der
nationalsozialistischen Medizinverbrechen“ trifft also in zweierlei
Hinsicht nicht zu: Sterilisationen fanden zu Franqués Zeiten häufiger
statt, und Medizinverbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches hat
Forsbach nicht nachgewiesen.
Die genauere Analyse der von Forsbach zitierten „Anträge auf
Zwangssterilisation“ ergibt nun Folgendes: Es handelt sich um 12 x 7 cm
große Karteikarten (Beispiel siehe Abb. 1), die Name, Vorname,
Geburtsname, Geburtsdatum, Aktenzeichen, selten auch Berufsstand und
Wohnsitz enthalten [26]. Nirgends steht das Wort „Antrag“. Es ist also
nur eine Sammelkartei.
Abb.1: Sammelkartei Bonn, wahrscheinlich eine sog. Erbkartei
Solche Sammelkarteien hat es unter der NS-Herrschaft vielerorts
gegeben. Sie wurden u.a. Erbkarteien [27,28,29,30,31] genannt. Heesch
beschreibt, dass in Hamburg 73 Prozent der Bevölkerung in einer solchen
Kartei erfasst waren. Nach Schmuhl [32] begann die erbbiologische
Datenerfassung bereits vor 1933; seit 1935 waren die Gesundheitsämter
zuständig für „Erbkarteien“ und „Erbarchive“.
Die Antragsformulare auf Sterilisation sahen ganz anders aus als
besagte Sammelkartei (Abb. 2). Sie trugen die Überschrift „Antrag auf
Unfruchtbarmachung“ und finden sich bei den Erbgesundheitsakten.
Abb. 2: Formular Antrag auf Unfruchtbarmachung
Es
ist deshalb zu vermuten, dass es sich bei der von Forsbach zitierten
Bonner Kartei um eine sog. Erbkartei handelt. Eine solche Erbkartei
wurde im Gesundheitsamt Bonn angeblich schon 1931 angelegt [33].
In einer Veröffentlichung der Verwaltung der Rheinprovinzen aus dem
Jahre 1939 [34] über Sterilisationen wird zwischen „Anzeigen“ und
„Anträge mit ärztlichen Gutachten“ unterschieden. „Anzeigen“ sind
zahlenmäßig 2,3 mal so häufig wie „Anträge“, was dafür spricht, dass
die „Anzeigen“ einer „Erbkartei“ und nicht „Anträgen auf
Zwangssterilisation“ (s. Forsbach) entsprechen.
Bewertungen wie „NS-Verbrechen“, die diesen Ausdruck umgangssprachlich
verwenden, stellen eine persönliche Meinung des Autors dar und sollten
nicht Eingang in wissenschaftliche Arbeiten wie etwa einer
Habilitationsschrift finden. Oder sie sollten als persönliche Meinung
deklariert werden. Jedoch gilt heute nach wie vor, dass
wissenschaftliche Forschung neutral und wertefrei sein soll.
Wenn Sterilisationen damals medizinisch nicht begründet und damit
ungesetzlich waren, sollten solche Vorwürfe von einem Gericht,
zumindest von einer unabhängigen Kommission geprüft und beurteilt
werden. Dies gilt z. B. für die kürzlich erfolgte Veröffentlichung über
die Sterilisation einer Minderjährigen [35].
In den letzten Jahren haben der Deutsche Bundestag und der Deutsche
Ärztetag wiederholt zu Zwangssterilisationen während der NS-Zeit
Stellung genommen [36]. Dabei haben sie im Zusammenhang mit
Zwangssterilisationen immer von NS-Unrecht gesprochen, nicht von
NS-Verbrechen, obwohl die gestellten Anträge immer die Formulierung
„NS-Verbrechen“ benutzten. Die einen scheinen moralisch zu urteilen,
die anderen juristisch. Für beide sollte gelten, dass die Zeitumstände
berücksichtigt werden sollten.
Die vorliegende Kritik soll dazu beitragen, Wissenschaftlichkeit in die
Beurteilung der NS-Zeit zu bringen. Dazu sind u.a. genaues
Quellenstudium, Aussagen von Zeitzeugen und Beurteilungen von Experten,
im vorliegenden Fall Ärzten und Juristen, vonnöten. Hier ist in erster
Linie die betroffene Universität Bonn aufgerufen, eine
multidisziplinäre Kommission aus externen Gutachtern mit der Aufklärung
u.a. von Sterilisationen an der medizinischen Fakultät zu beauftragen.
In seiner Habilitationsschrift „Die Medizinische Fakultät der
Universität Bonn im ´Dritten Reich`“ gibt Forsbach seine
persönliche Meinung wieder, dass Sterilisationen „NS-Verbrechen“ waren.
Er diskutiert nicht, dass sie nach dem damaligen Gesetz erlaubt waren
und auch vom Deutschen Bundestag und von deutschen Gerichten nicht als
Verbrechen bezeichnet wurden. Er fällt ein persönliches,
moralisierendes Urteil über namentlich genannte Hochschullehrer, ohne
bereits veröffentlichte Arbeiten über das Wirken dieser Hochschullehrer
zu diskutieren.
Danksagung: Ich danke Herrn
Ulf Siebke für zahlreiche Recherchen und Diskussionen zu den
Hintergründen der Vorgänge außerdem für die Fotokopien
Fotonachweis: Die Abbildungen 1 bis 3 sind Bilder von Fotokopien, die
Ulf Siebke im Stadtarchiv Bonn machen durfte.
Literatur
1 Forsbach Ralf: Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“. Oldenbourg Verlag München 2006
2 Brökelmann Jost: Kleine Chronik der Universitäts-Frauenklinik Bonn. Bonner Universitätsblätter (1986) 27‒41
3 Brökelmann, Jost: Vortrag „Gedenken an Prof. Siebke, geboren 1899“ auf der „Bonner Woche“ - Gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin. Bonn, Universitäts-Frauenklinik, 1.-5. März 1999
4 HStA Düsseldorf, NW 1037-B III-1201: Entscheidung des Berufungsausschusses Bonn Claessen/Bach/Parsch/Wiertz/Hahn in Sachen Siebke, 16.2.1948
5 Höpfner, Hans-Paul: Die Universität Bonn im Dritten Reich. Akademische Biographien unter nationalsozialistischer Herrschaft. Bouvier Verlag Bonn (1999) 314-315
6 Gemeint sind offenbar Sterilisationen nach dem sog. Erbgesundheitsgesetz, dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GezVeN). Diese werden in dieser Arbeit kurz als Sterilisationen bezeichnet.
7 Wander-Ausstellung des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg in Zusammenarbeit mit dem Stadtmuseum Erlangen, vom 27. Januar bis 21. Februar 2003 im Foyer des Bonner Stadthauses
8 General-Anzeiger vom 5. Dezember 2002
9 General-Anzeiger Bonn, 29./30.Januar 2005 laut Vortragsmanuskript von Dr. R. Forsbach, vorgelesen von Prof. Dr. Heinz Schott
10 Haffner, Sebastian: Geschichte eines Deutschen. Verfasst 1939. Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart München 2000
11 im Jahre 1933 [Anm. d. Verfassers]
12 Haffner, Sebastian: Anmerkungen zu Hitler. Kindler 1978. S. 46
13 Rüther, Martin: Ärztliches Standeswesen im Nationalsozialismus 1933-1945. In: Geschichte der deutschen Ärzteschaft. Robert Jütte, Hrsg. Deutscher Ärzte-Verlag 1997. Seite 174
14 Tomuschat, Christian: Das Recht des Widerstands nach staatlichem Recht und Völkerrecht. In: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat. Wallstein Verlag 2007, S. 61-62
15 Grass, Günter: Interview am 31.8.2009 in 3sat zu dem Film „Für Danzig sterben“.
16 s. Fußnote 6
17 Amerik. Mil. Tribunal. Erlaß und Anwendung von Sterilisationsgesetzen. Vfg. V. 2.7.1947 im Fall III – Juristenprozeß – Quelle: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1947/48 Heft 1, Seite 30
18 II. Zentral-Justizamt für die Britische Zone. Verordnung über die Wiederaufnahme von Verfahren in Erbgesundheitssachen. Verordnungsblatt f. d. Britische Zone, 1947, Nr. 14 vom 1. August 1947
19 Wikipedia. Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, 17.08.2009
20 OLG Hamm. BGB § 830; ALREinl. § 75; Ges. zur Verhütung erbkranken Nachwuchses v. 14.7.1933 – RGBl I 529 Beschl. V. 29.1.1954 – 9 W 231/53. Quelle: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1954 Heft 11/15, Seite 559
21 http://de.wikipedia.org/wiki/Erbgesundheitsgesetz
22 Schmuhl, Hans-Walter: Zwangssterilisation. Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. In: Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung. Robert Jütte, Hrsg. Wallstein Verlag 2011, S.201 ff.
23 Staatsanwalt/GL Dr. Riedel: Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Ludwigsburg, Schreiben vom 03.02.2009
24 OLG Karlsruhe vom 28. Februar 2007 – 6 U 98/06 -
25 Hibbeler, Birgit: Nationalsozialismus: Forschungspreis verliehen. Dtsch Ärztebl 2007; 104(21): A-1424 / B-1272 / C-1212
26 Feldmann A, Bothien H-P. Zwangssterilisationen in Bonn. Zur Arbeit des Erbgesundheitsgerichts Bonn (1934-1944). In: Annette Kuhn, Hrsg.. Frauenleben im NS-Alltag. Pfaffenweiler 1994 (= Bonner Studien zur Frauengeschichte, 2), S. 246-254
27 Rosenau, Renate: Ansprache zur Einweihung der Pfälzischen Gedenkstätte für die Opfer der NS-Psychiatrie. 11. April 2008. http://www.pfalzklinikum.de/uploads/media/RosenauRenate_Alzey_Ansprache_080411.pdf
28 Heesch E. Nationalsozialistische Zwangssterilisierungen psychiatrischer Patienten in Schleswig-Holstein. In: Demokratische Geschichte. Jahrbuch zur Arbeiterbewegung und Demokratie in Schleswig-Holstein 9/1995, S. 55-102 http://www.akens.org/akens/texte/demgesch/heesch.html
29 Okroy, Michael: Volksgemeinschaft, Erbkartei und Arisierung. Ein Stadtführer zur NS-Zeit in Wuppertal, 2., überarb. Aufl., Wuppertal 2008
30 http://www.foerdervereinroma.de/archiv/2003/020803b.htm
31 Fleiter, Rüdiger: Kommunen und NS-Verfolgungspolitik. http://www.bpb.de/apuz/30547/kommunen-und-ns-verfolgungspolitik?p=all
32 Schmuhl, Hans-Walter: Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1987, S.145-146
33 http://ns-schulzeit.bonn.de/umfeld/fakten2.htm
34 Bericht der Rheinischen Provinzialverwaltung über ihre Tätigkeit in den Jahren 1933 – 1936. Droste Verlag und Druckerei KG, Düsseldorf, Pressehaus am Martin-Luther-Platz. 1939
35 LVR: „Euthanasie" und Zwangssterilisierungen im Rheinland (1933–1945)
36 Entschädigungsleistungen für „Euthanasie“-Geschädigte und Zwangssterilisierte. Deutscher Bundestag Drucksache 17/12415. 20. 02. 2013